Hoffnung, Erinnerung, Wiederholung

marcus_birkenkrahe_picEs ist Sonntagabend: ich habe mir vorgenommen, in den sechs Wochen vor dem Workshop „Innen und Außen“ wöchentlich (oder solange ich Kraft und Lust habe) zum Leitbild-Prozess zu bloggen. Ich möchte mir jede Woche einen der vergangenen Leitbild-Workshops anschauen und meine Gedanken dazu aufschreiben. Erst in der sechsten Woche komme ich dann zu meinem eigenen Thema, obwohl ich schon immer mal wieder versuchen werde, Brücken zu bauen zwischen den anderen Themen und „meinem Thema“.

Dies wird keine wissenschaftliche Analyse sein, auch kein aufgeregter Leitartikel, sondern eher eine Art Bildschirm-Meditation. Direkt aus dem Kopf in den Blog — no frills, no fear.

Für diesen ersten Beitrag kann ich noch die eigene Erinnerung bemühen – ich spreche von der Auftaktveranstaltung am 21. Juni 2013. Meine Erinnerung an den Nachmittag ist noch ziemlich lebendig – das ist an sich schon ungewöhnlich: ich vergesse gerne auch nur kurz zurückliegende Ereignisse. Das führt in unserer Familie immer wieder zu komischen Szenen, wenn ich mir die Handlung eines Films erzählen lassen muss, den wir gemeinsam einen Monat früher gesehen haben! Ich habe Glück, dass das Semester nur drei Monate währt…ein wenig länger, und ich müsste meine Studierenden fragen, was wir am Anfang gemacht haben. Natürlich übertreibe ich (leicht)…

Jeder Neuanfang lebt vom Erinnerungsverlust. Wenn wir uns in derselben Detailtiefe und Schärfe an die Vergangenheit erinnern könnten, mit der wir an die Gegenwart gebunden sind, dann würden viele von uns wohl am liebsten gar nichts mehr tun. Das Aufweichen der Erinnerung, und das von unbewusster Absicht geleitete Umordnen und Umschichten von Fakten, Gefühlen und Ideen erhält uns die Neu-Gier auf mehr, auf anderes. Weil wir unsere Fehler vergessen, trauen wir uns überhaupt, neue zu machen. Und wenn das Siegesgefühl zu verblassen droht, wollen wir wieder gewinnen. Oder so ähnlich – dieses verschwurbelte Argument erinnert mich an etwas, das ich vielleicht als Jugendlicher gelesen, halb verstanden und absorbiert habe (passt irgendwie zu den Existentialisten, von denen ich damals erfüllt war). Glücklicherweise kann ich mich nur dunkel erinnern, deshalb darf ich mir erlauben, noch etwas weiter zu spinnen, oder?

gratwanderung

Jugend bei Gratwanderung.

Ich werde an eine andere Veranstaltung erinnert. Sie war nicht offiziell und zog auch keine Workshop-Serie nach sich: vor sieben Jahren traf sich im Bauch des damaligen Hauptgebäudes, heute Haus B am Campus Lichtenberg, eine Gruppe von (überwiegend) frisch berufenen Professorinnen und Professoren des FB 1, um Verbesserungen für die Hochschule zu diskutieren. Wir nannten uns (in Anspielung an das Kinderbuch von Erich Kästner) „Die Konferenz der Tiere“. Eingangs zeigte ich eine Art Dokumentarfilm, aus Schnappschüssen zusammengesetzt, die ich überall auf dem Campus gemacht hatte. Das war das „Innen“ der Hochschule quasi von „Außen“ gesehen, denn ich war gerade erst ernannt und noch gar nicht berufen worden. Dieser Blick von außen führte gleich zu einer regen Diskussion. Einige der Themen gibt es übrigens heute noch, auf anderem Niveau, mit anderen Vorzeichen, anderen Akteuren.

Auch dieses Treffen von 2006 ist mir noch in lebendiger Erinnerung. Das mag damit zu tun haben, dass fast alle, die damals miteinander ins Gespräch kamen, in den letzten Jahren wirklich viel bewegt haben. Wenn auch nicht als „Konferenz“, sondern zumeist in einer der Gruppen, an denen die HWR so reich ist. In meinem Fall laufen die Fäden von Freundschaft und freundlicher Zusammenarbeit quer durch alle Standorte, Gebäude, Fachbereiche, Facheinheiten, Gremien und Abteilungen. Vielfalt im Dienste eines komplexen Ganzen.

Und hier ist meine Schlussbeobachtung: vor sieben Jahren trafen wir Dozenten uns fast mit einem „konspirativen“ Empfinden, sozusagen ganz unter uns. Als „Konferenz“ hatten wir keinen Bestand, und das ist auch gut so, denn wir waren zu schmalbrüstig, zu inzüchtig, zu engstirnig (und wussten das auch): uns fehlten Studierende, Verwaltung, Lehrbeauftragte, andere Fachbereiche. Der 2013 begonnene Prozess hingegen war von Beginn an eine multilaterale Angelegenheit – ich sah es bei der Auftaktveranstaltung, und ich kann es auf allen Bildern der Folgeveranstaltungen erkennen. Nicht alle Gruppen sind in gleicher Stärke dabei – aber alle, die das „Innen“ gestalten, sind doch vertreten. Durch Web-Protokoll und Blog kriegt der Prozess eine Schale, erhält die Fülle eine Hülle, auf der sich auch diejenigen, die nicht selbst dabei waren, einritzen und einschreiben können. In unserer Internet-basierten Informationsgesellschaft ist das lebendige Demokratie. Trotzdem: obwohl die Dokumentation und der Dialog im Netz nicht unter Amnesie leiden, lass ich mir meine kreativen Erinnerungslücken nicht nehmen!

Sören Kierkegaard (ca. 1840)

Jetzt kehrt auch mein Gedächtnis (Google-powered) wieder zurück — es war Kierkegaard, der 1843 empfahl:

»Die Hoffnung ist ein neues Kleid, steif und stramm und glänzend, man hat es jedoch niemals angehabt, und weiß darum nicht, wie es einen kleiden wird oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid, welches, so schön es ist, nicht mehr paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unverschleißbares Kleid, welches fest und zart sich anschmiegt, weder drückt noch schlottert.“

Sören sei Dank: also nicht unglücklich sein, wenn sich etwas zu wiederholen scheint!

Mal sehen, ob auch in der nächsten Woche meine Wort-Fontäne so lustig sprudelt! Dann guck‘ ich mir den ersten thematischen Workshop, „Tradition und Innovation“ von außen an.

red-question-mark-circle-clip-artFrage an die Leser: Was erinnern Sie vom Startschuss des Leitbildprozesses (wenn Sie da waren)? Oder wenn Sie nicht da waren, was haben Sie gehört? Gutes? Schlechtes? Teilen Sie sich mit!


Marcus Birkenkrahe bloggt in den sechs Wochen vor dem Workshop “Innen und Außen” zum Leitbild-Entwicklungsprozess. Er bloggt außerdem mit über 70 anderen Autoren auf elerner.de, dem E-Learning Blog der HWR Berlin.

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2 Antworten zu Hoffnung, Erinnerung, Wiederholung

  1. Madini L. sagt:

    Hallo Professor Birkenkrahe!

    So manche Male bin ich wieder erstaunt, wie oft meine Freundin Situationen so unklar in Erinnerung hat. (Ich bin da wahrscheinlich nicht anders, nur fällt einem das oft erst bei anderen auf.) Das „Aufweichen der Erinerung“ ist fantastisch, wie ich immer wieder feststelle. Es gibt uns die Gelassenheit zu Vergeben, neue Chancen zu geben und selber wahrzunehmen.
    Das „Aufweichen der Erinnerung“ ist ein Superschutz der eigenen Person.
    Super gemacht Natur!

    Und danke auch an Sören und seine drei Kleider Metapher. Wenn ich mal wieder vor Wiederholungen aufstöhne, dann werde ich mich an seine drei Kleider erinnern. 😉
    Vielen Danke Professor, heute wieder was Neus gelernt!

  2. Henriette Scharfenberg sagt:

    Hallo Marcus,

    mit viel Spaß habe ich Deine Worte gelesen. Ich kenne das sehr gut mit dem „Loslassen“ der Erinnerung – was Du von den Filmen schreibst, geht mir immer genauso. Dass sich die Auftaktveranstaltung erhalten hat, ist wunderbar, ich glaube, es ging den meisten so, dass sie die als etwas Besonderes empfunden haben, weil dort sehr zahlreich und quer durch alle Statusgruppen zusammengearbeitet wurde. Es war wirklich der Auftakt zum Miteinandersprechen, das erste Erkennen, dass diejenigen, die woanders sitzen oder andere Arbeit machen zum einen großenteils sehr nett sind und zum anderen auch ihre Gründe haben, warum sie bestimmte Dinge auf bestimmte Weise erledigen. Und jenseits von Leitsätzen, die der Hochschule eine Richtung vorgeben, war aus meiner Sicht alleine das schon ein Gewinn.

    Ich bin gespannt, was als nächstes von Dir kommt!

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